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Paranoia als Migrationsdelirium und Vermittlungswahn um 1900: Zu den Aufzeichnungen von Anton Wenzel Grosz

Abstract

Anhand eines konkreten Beispiels verdeutlicht mein Aufsatz die Bedeutung und Notwendigkeit einer Archivarbeit, die historisch verdrängte und marginalisierte Artefakte und Dokumente ins Licht rückt: Gegenstand der Analyse sind die handschriftlichen Aufzeichnungen und Skizzen eines Paranoikers aus den Jahren 1913/14, die mehr oder weniger zufällig in einem Berliner Literaturarchiv gelandet sind. Ich argumentiere, dass die Aufzeichnungen von Anton Wenzel Grosz für eine Geschichte der Migration im deutschsprachigen Raum von größter Bedeutung sind, weil sie – auch und gerade in ihrer paranoischen Verzerrung – ein Schlaglicht auf nur wenig erforschte vermittlungstechnische Bedingungen transatlantischer Migration zwischen Europa und den Vereinigten Staaten um 1900 werfen. Dabei betone ich mit Deleuze und Guattari, und in Abgrenzung von psychoanalytischen Lesarten, die historische und politische Dimension des paranoischen Wahns und mache seine Welthaltigkeit zur Prämisse meiner Analyse. Ich lese Grosz’ paranoische Aufzeichnungen als Zeugnis eines „Migrationsdeliriums“, eines Wahns also, der in der Migration sein Material, seine Formen und Themen findet. Überdies spielen Mittlerfiguren und -institutionen, Transportmittel und -wege eine zentrale Rolle in seinem Wahngebäude, das ich daher in einem zweiten Schritt als „Vermittlungswahn“ beschreibe, der, wie ich im Rekurs auf Michel Serres nachzeichne, parasitäre Verhältnisse thematisiert. Als realhistorisches Substrat der von Grosz phobisch besetzten Mittlerfiguren lassen sich die zeitgenössischen, sogenannten „Auswanderungsagenten“ identifizieren, welche um 1900 eine zentrale Schnittstelle innerhalb der Organisation transatlantischer Migrationsbewegungen darstellten. In einem dritten und letzten Schritt widme ich mich dem Umstand, dass Grosz „Migrationsdelirium“ sich nicht nur schreibend, sondern auch zeichnend artikuliert, und untersuche die kartographischen Skizzen, die Teil seiner Aufzeichnungen sind. Die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser kartographierenden paranoischen Ermittlung führt mich zur zeitgenössischen Kriminologie und offenbart die geteilten Episteme von Paranoia und Kriminologie um 1900: ein Zeichengebrauch, der sich als Hypersemiose beschreiben lässt, und eine Praxis der Spurensicherung, die dem Indizienparadigma unterstellt ist. Darüber hinaus lassen sich die Karten mit Deleuze auch als Ausdruck einer Mobilisierung des Unbewussten lesen, das angesichts realer Internierung Fluchtlinien entwirft.

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